Der Unfall

 

„Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man durch den Tod nicht verlieren.“

Johann W. von Goethe

 

 

 

Der Aje-See ist ein alter Steinbruch in Eppertshausen mit einer Breite von 50m, einer Länge von 200m und einer Tiefe von ungefähr 8m. Dieser Natursee befindet sich inmitten eines Waldes, ruhig gelegen, als beliebtes Ausflugziel für Spaziergänger. Für uns ist dieser Ort der schlimmste und zeitgleich schönste auf der ganzen Welt.

An diesem See ist unser Sohn und Bruder Konstantin durch einen Unfall ums Leben gekommen.

 

Am 26. Juni 2020 hat am Aje-See eine Geburtstagfeier stattgefunden. Konstantin war ebenfalls eingeladen. Gegen 17:00 Uhr wurde er von seinem Papa zum Aje-See nach Eppertshausen gefahren. Ursprünglich wollte er mit seinem Fahrrad fahren, da er jedoch einiges an Gepäck dabei hatte, ließ er sich doch lieber mit dem Auto hinfahren. Papa bot außerdem an, ihn auch am nächsten Tag wieder dort abzuholen.

Konstantin war an diesem Tag das erste Mal am Aje-See.

 

Von Erzählungen der Freunde, die mit an dem See waren, sei es ein entspannter Abend gewesen. Es sei noch lange hell gewesen, man war zusammen schwimmen gegangen, habe Musik gehört, sich unterhalten und Alkohol getrunken. Bereits am frühen Abend haben diejenigen, die vorhatten am See zu übernachten, Zelte auf einer kleinen Anhöhe ein paar Meter von der Steilklippe entfernt aufgeschlagen. Konsti habe sein Zelt sehr schnell aufgebaut, sodass er den anderen Personen ebenfalls beim Aufbau geholfen habe.

 

Als es langsam dunkler wurde und die mitgebrachten Fackeln ausgingen, haben sich einige Personen bereits verabschiedet, sich in ihre Zelte oder auf mitgebrachten Decken schlafen gelegt. Konstantin habe sich ebenfalls in sein Zelt gelegt. Der Abend sei unauffällig gewesen, Konsti war gut drauf, habe sich mit vielen verschiedenen Leuten unterhalten. Es seien darunter auch einige ihm bislang fremde Personen gewesen. Aber so war er eben. Er hat sich mit allen verstanden und mit jedem sofort Gesprächsthemen gefunden. 

Um 2:30 Uhr haben ein paar Personen plötzlich ein lautes Platschen im Wasser wahrgenommen. Sofort seien mehrere Leute an den Abhang der Steilklippe gelaufen und haben sehen können, dass eine Person, mit dem Gesicht nach unten im Wasser lag. Es sei jedoch nicht zu erkennen gewesen, um wen es sich handelt, da es dafür bereits zu dunkel war. Mit den Taschenlampen von Mobiltelefonen sei ins Wasser geleuchtet worden. Mehrere Personen, ca. 5-6, seien sofort ins Wasser hinter hergesprungen - einer von oben die Steilklippe herunter, die anderen von den Seiten, den seichteren Stellen und Ufern. Die im Wasser treibende Person sei jedoch so schnell untergegangen, dass man es selbst mit mehreren Tauchversuchen nicht geschafft habe, diese zu erreichen. Um 2:30 Uhr habe eine der Personen ein Notruf abgesetzt, welche oben an der Klippe gestanden habe und mit dem Handy ins Wasser leuchtete. Keine zehn Minuten später sei ein Rettungswagen sowie die Polizei vor Ort gewesen.

Da es bereits dunkel war und niemand mehr einen genauen Überblick gehabt habe, wer noch vor Ort war oder bereits nach Hause gegangen war, konnte vorerst nicht festgestellt werden, um welche Person es sich im Wasser handelte. Nachdem die Ersthelfer, welche sich zum Teil noch im Wasser befunden haben, durch die Feuerwehr und Polizei aus dem Wasser geholt wurden, seien diese alle versammelt worden und zu dem großen Parkplatz zur Zufahrt des Aje-Sees geschickt worden.

Konstantin sei zu dem Zeitpunkt nicht mehr auffindbar gewesen.

Sein Zelt, Rucksack, Handtuch sowie alle seine anderen Sachen haben sich noch an dem Platz befunden, wo er diese zuletzt abgestellt hatte.

 

Am Samstag, den 27.06.2020 haben wir um 08:10 Uhr von der Polizei einen Anruf bekommen, ob wir wissen wo Konstantin ist und dass er aktuell vermisst wird. Er war weder zuhause, noch hatten wir eine Ahnung wo er sein könnte. Uns war klar, dass er sich nicht einfach aus dem Staub macht. Konstantin hat am 03. Juni 2020 seine schriftliche und am 23. Juni 2020 seine praktische Prüfung zum Garten- und Landschaftsbauer mit einer sehr guten Note bestanden. Nur die mündliche Prüfung am 08. Juli stand noch bevor. Er hatte den Mietvertrag für seine erste eigene Wohnung unterschrieben und sollte im Juli dort einziehen.

Am 22. Juli 2020 stand meine Hochzeit bevor und Konstantin hatte schon gesagt, wie sehr er sich darauf freut. Nein - Er haut nicht einfach ab.

Am späten Nachmittag haben wir im Polizeikommissariat Darmstadt-Dieburg mehrere persönliche Gegenstände von Konstantin abgeholt. Darunter befand sich sein Rucksack, seine Badehose, sein T-Shirt, sein Handtuch und sein Portemonnaie mit vollständigem Inhalt. Sein Zelt und andere persönliche Gegenstände haben seine Freunde für ihn mitgenommen. Was jedoch fehlte war die Kleidung, die er anhatte sowie seine Schlüssel, sein Handy und seine Schuhe.

In diesem Moment konnte man uns noch keinerlei Auskunft geben, außer, dass Konstantin als vermisst gilt. Ich bin selber Polizeikommissarin und weiß, dass eine erwachsene Person in der Regel nicht als vermisst gilt, außer wenn anzunehmen ist, dass diese Person sich in einer Gefahrenlage befindet. Für uns passte das alles nicht zusammen und diese Hilflosigkeit war kaum auszuhalten.

Darauf folgten die schlimmsten Tage unseres Lebens…

Wir befanden uns in Froschhausen in der gemeinsamen Wohnung und warteten, dass Konstantin die Tür hereinkommt. Sein Zimmer war so wie er es zurückgelassen hat, als würde er jeden Moment nach Hause kommen.

Wir konnten nichts weiter tun, als abzuwarten. Als die Stunden langsam vergingen und wir uns so machtlos fühlten, haben wir versucht, mit den Personen Kontakt aufzunehmen, welche ebenfalls am Aje-See auf der Geburtstagsparty waren. So konnten wir uns nach und nach den Hergang und die schreckliche Gewissheit zusammenfügen und wussten insgeheim, dass Konstantin nicht mehr wiederkommen wird.

Mehrere Tage vergingen, der See wurde mehrfach stundenlang mit Sonar-Geräten der Feuerwehr, etlichen Bundeswehrtauchern und Polizeitauchern abgesucht. Ohne Erfolg. Uns wurde mitgeteilt, dass die Suche eingestellt wird.

Unsere allerletzte Hoffnung sahen wir in privat organisierten Höhlentauchern aus Norddeutschland, sowie der Leiterin einer Tauchschule aus Wächtersbach. An einem Freitag, zwei Wochen nach seinem Verschwinden, sollte es losgehen.

Der See ist grad einmal 10 Hektar groß und 8 Meter tief, jedoch beträgt die Sichtweite unter Wasser nur wenige Zentimeter und es war aufgrund dieser Bedingungen nicht möglich den See schematisch abzusuchen. Die Taucher waren mehrere Stunden unter Wasser. Einer der privaten Taucher äußerte bereits nach dem ersten Tauchgang die treffende Bemerkung, dass der See unter Wasser aussieht wie ein „Märchenwald“. Erst jetzt konnten wir uns vorstellen, wie schrecklich die Suchbedingungen sind und mussten uns mit dem Gedanken abfinden, dass unser Konzo nicht mehr aufzufinden ist.

 

Ich erinnere mich an einen Moment mit Max, meinem großen Bruder. Wir standen oben an der Klippe, blickten in den See und sagten zu uns: „Dann ist Konzo jetzt wohl für immer da unten… das würde ihm bestimmt richtig gut gefallen. Ein Wald unter Wasser und er ist da mit seinen Bäumen und Pflanzen. Er würde sicher sagen, dass wir ihn nicht weiter suchen und unsere Kräfte sparen sollen.“ Der Gedanke war schön und zeitgleich so traurig. Wir wollten ihn doch unter keinen Umständen da unten lassen…

Wir mussten die Suche an diesem Tag aufgeben. Es gab keine Hoffnung mehr ihn zu finden. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Wir waren müde und erschöpft, obwohl wir selber an dem Tag fast nur rumstanden und zusehen konnten. 

Zwei Tage später war Konstantins 24. Geburtstag. Wir ließen in Seligenstadt einen Gottesdienst für ihn halten. Es kamen so unglaublich viele Menschen und wir waren sehr gerührt. Es war eigentlich noch kein richtiger Abschied, denn wir haben ihn nicht gefunden. Aber es war sein Geburtstag.

Wir waren hilflos, da wir doch alles in unserer Macht stehende versucht haben und Konstantin trotzdem nicht finden konnten.

 

Die Tage vergingen.

 

Am 22. Juli 2020, mehr als drei Wochen nach dem Verschwinden, kam ein Anruf der Polizei. Konstantin wurde durch einen Spaziergänger gefunden. Genau an der Stelle, an der er ins Wasser gefallen ist und dort wo ihn seine Freunde zuletzt gesehen haben.

Die freiwillige Feuerwehr Eppertshausen holte ihn endlich da raus, raus aus diesem See.

Durch seine Kleidung und das Tattoo an seinem linken Knöchel konnte er schnell identifiziert werden. Es war unser Konstantin. Er war vollständig bekleidet. Hatte Schuhe, Hose und T-Shirt an und unter anderem sein Handy und seinen Schlüssel in den Hosentaschen. Das Handy hat er erst eine Woche zuvor von seinem Bruder Max bekommen. Es sah aus wie neu und unversehrt, nur ein wenig nass.

Wir wissen nicht genau was passiert ist. Doch jetzt wussten wir, dass es ein Unfall war. Und dass er nicht doch „irgendwo da draußen“ unterwegs war, womit man anfangs versuchte uns Mut zu machen.

Er konnte gut schwimmen. Er war jedoch nicht so leichtsinnig nachts in einem See schwimmen zu gehen. Er hatte Respekt vor Höhe. Das hat er an dem Tag noch einem der Anwesenden erzählt. Unter welchen Umständen er von der steilen Klippe gefallen ist, wissen wir nicht. Er war Schlafwandler. Hat an dem Abend Alkohol getrunken. Wollte vielleicht einfach nur pinkeln gehen.

Und er ist ertrunken. Das hat die Obduktion ergeben. Alles weitere können wir nur vermuten oder es uns aus den Erzählungen des Abends rekonstruieren. Wir wissen, dass er auf ein Mädchen gewartet hat, da er ihr noch geschrieben hat. Sie war ca. gegen 1:30 Uhr am Aje-See und als sie ankam wurde ihr gesagt, dass Konstantin vermutlich schon schläft. Auf ihre Whatsapp-Nachricht hat er ihr nicht mehr geantwortet.

Wir fuhren in den Wochen und Monaten danach mehrfach zu dem See. Wir versuchten Antworten zu finden und uns die Situation vorzustellen. Doch wir erhielten sie nicht und werden diese auch niemals bekommen.

 

 

Ruhe in Frieden Konstantin. Wir lieben dich für immer!

 

(verfasst von Sophie - Konstantins großer Schwester)